Lieb, brav, nett, geduldig, verständnisvoll, nachgiebig, sittsam, bescheiden, still und leise – so hätte die Welt uns Frauen gerne. Doch manche durchschauen diese Lebenslüge, die uns von klein auf eingetrichtert wird, irgendwann. Eine von ihnen ist meine georgische Klavierlehrerin, die mir voller Stolz und Selbstsicherheit, das moralische Recht auf ihrer Seite wissend, erzählte, wie sie ihren Asi-Nachbarn vermöbelt hatte.
Vermutlich begann es ganz klassisch mit gekränkter Eitelkeit. Hatte der Vater des besagten Nachbarn einst nach Klavierunterricht für seinen Sohnemann gefragt, hörte meine Klavierlehrerin auf ihr Bauchgefühl und lehnte mit Verweis auf mangelnde Kapazitäten ab. Irgendwann da fing es an: kein Grüßen mehr im Flur, Klopfen gegen die Wand, Tritte gegen die Tür, Beleidigungen. Laute Rap-“Musik“, die von der üblen Sorte, mit der er das ganz Haus volldröhnte. Und immer dann auf Anschlag, wenn sie Klavier spielte. Einmal erwischte sie ihn auf frischer Tat, als er gerade Wasser an ihre Tür geschüttet hatte. „Was willst du Schlampe?!“ stammelte er den Eimer noch in der Hand haltend. So forderte der Querulant über einige Monate sein Schicksal heraus. Naiv in der Annahme, die Kleine von nebenan würde sich ohnehin nicht wehren – so wie er es von seiner Freundin gewohnt war. Falsch gedacht.
Sein eigenes Urteil fällte der Zögling, als er zuletzt ihr schriftliches Angebot zu einer Aussprache mit einem Rotz an ihre Wohnungstür quittierte. Zu blöd für ihn, dass sie das mitbekam. Die noch frisch triefende Schikane an ihrer Tür entdeckend platzte ihr der Kragen. Sie hatte es lange genug im Guten versucht. Nun war Schluss. Hausverwaltung und Staat in Form der Polizei hatten bisher mit Nichtstun geglänzt. Und wegen eines Yellows an der Tür würde sich letztere wohl kaum auf den Weg machen. Es war Zeit, die Dinge selber in die Hand zu nehmen. Und das konnte sie, hatte sie doch schon Schlimmeres erlebt als diesen Rotzlöffel von nebenan. Mit 18 Jahren alleine von Georgien nach Deutschland, ohne Sprachkenntnisse, ausgenutzt als Au-pair in einer wohlhabenden Bildungsbürgerfamilie, die ihr, der bereits zertifizierten Pianistin, das Essen rationierte und Klavierspielen untersagte.
Mit Sturmklingeln, Hämmern und Tritten forderte sie hartnäckig sein Herauskommen. Sein Ignorieren war zwecklos. Mit dieser Vehemenz und Ausdauer hatte der Gute offensichtlich nicht gerechnet und schickte feige seine Freundin vor. Ihre Abwimmelungsversuche scheiterten kläglich, als meine wütende Klavierlehrerin mit voller Wucht die Tür eintrat, so dass diese aus den Angeln flog. Sie vernahm einen dumpfen Laut. Offensichtlich hatte ihr werter Nachbar dabei eine Kopfnuss abbekommen. Meine Klavierlehrerin war nicht mehr zu bremsen und zerrte ihn aus seiner vermeintlichen Schutzzone. Ihm fiel nichts Gescheiteres ein, als sein frauenfeindliches Beleidigungsrepertoire abzuspulen. Das brachte sie erst richtig in Fahrt. Die passende Antwort spuckte sie ihm ins Gesicht, packte ihn an der Gurgel und donnerte seinen unverschämten Schädel mehrfach gegen die Wand. Dass der Loser es mit seinen Anfang zwanzig nicht mal zu einem Schulabschluss gebracht hatte und es auch sonst zu nichts bringen würde, machte sie ihn zur Minna. Und dass die „Scheiß Ausländerin“, wie er sie immer nannte, für seine Grundversorgung aufkomme.
Er hatte sich mit der Falschen angelegt, mit einer Macherin, die trotz vieler Widrigkeiten schon mit Ende zwanzig selbständige Unternehmerin, Konzertpianistin und Klavierlehrerin war. Von so einem verzogenen Balg würde sie sich nicht länger anpöbeln lassen. Und damit er das begriff, verpasste sie ihm Bud Spencer-mäßig noch ein paar kräftige Fausthiebe auf den Kopf und gezielte Tritte in die Eier. Die Nachbarn schauten zu, gaben sogar noch Anweisungen. Wie bequem, dass jemand anderes die Drecksarbeit für sie erledigte. Des Maulhelden Widerstand ward schließlich gebrochen, wandelte sich zu einem Winseln. Es war genug. Mit einem Schubs die drei Stufen Richtung Ausgang hinunter, durch den in vergangenen Zeiten schon viele Freier ungestraft geschritten waren, begnadigte sie ihn, um sich sodann der zeternden Freundin zu widmen.
Wie oft musste sie sich deren Geflenne im Treppenhaus anhören, wenn sie sich von ihrem Nichtsnutz-Freund mal wieder wie ein Müllsack vor die Tür hatte setzen lassen. Respekt fällt schwer bei so wenig Selbstachtung. Auch jetzt solidarisierte sie sich nicht schwesterlich, sondern hielt ihrem Freund, der im Hintergrund jammerte, die Nibelungentreue. Dass sie sich genauso dumm verhalte, wie sie sich körperlich gehen lasse, schnauzte meine Klavierlehrerin sie an, während sie sie an den Haaren aus der Wohnung zog, sich dabei mit einem Bein am Türrahmen abstützend, und damit schließlich die Spucke von ihrer Tür wischte. Ende der Vorstellung.
Dass mit meiner Klavierlehrerin nicht immer gut Kirschen essen ist, hatte ich schon des öfteren geahnt, wenn sie mich anmeckerte, weil ich ihrer Ansicht nach mal wieder nicht genug geübt hatte, oder wenn sie damit angab, im Fitness-Studio schwerere Gewichte gestemmt zu haben als so mancher Kraftmeier. Nun lernte ich eine weitere Seite an der Mode- und Kosmetikinteressierten kennen: Offensichtlich konnte sie nicht nur in die Tasten hauen, sondern auch auf die Schnauze.
Schwer angeschlagen rief der geprügelte Nachbar jedenfalls die Polizei. Meine Klavierlehrerin wechselte derweil die Garderobe und legte feinen Schmuck an, bis die Beamten sie zur Rede stellten. Beim Anblick des verschrammten Gesichts und den Striemen am Hals ihres Terror-Nachbarn sowie dem fehlenden Haarbüschel am Kopf seiner Freundin erschrak sie. So heftig hatte sie die Auseinandersetzung nicht in Erinnerung. Die Unschuld in Person stritt sie ab, die beiden so zugerichtet zu haben. Divenhaft die schicke Strickjacke vor dem Bauch überschlagend deutete sie auf ihr Klavier: „Ich bin schließlich Pianistin!“
Während andere Musiker-Luschen sich ihre Hände teuer versichern lassen, macht meine Klavierlehrerin einen auf Regina Halmich. „Wenn ich schon eine Anzeige wegen Körperverletzung kriege, muss sich das wenigstens gelohnt haben.“ Doch die bekam sie gar nicht. Der herbeigerufene Macho-Polizist verweigerte nämlich die Aufnahme einer solchen. Dass der herumkreischende und bereits als Nachbarschaftstyrann aktenkundige Hänfling sich von einer Frau derart verdreschen ließ, verstieß anscheinend gegen seine Männerehre. Stattdessen gab’s eine Meldung an die Hausverwaltung. Meine Klavierlehrerin erlitt einen leichten Kratzer am Finger.
Ihre Hoffnung, die Hausverwaltung würde dem Pöbler kündigen, erfüllte sich leider nicht. Aber immerhin geht er ihr seitdem aus dem Weg, grüßt sogar freundlich, wenn sich die Begegnung nicht vermeiden lässt, und verhält sich ruhig, nachdem sie ihn wegen Lärmbelästigung anzeigte. Doch meine Klavierlehrerin bleibt skeptisch und traut dem Frieden nicht. Demnächst will sie sich ihre beiden Knarren aus der Heimat zuschicken lassen.
Anmerkung der Blog-Redaktion: Es handelt sich bei diesem Text um die Nacherzählung einer wahren Geschichte. Die Gewaltfrage ist im Anarchismus ein zentrales Thema. Diskutiert mit uns.