Teil 1 – Der Eigentümer
Lange waren sie sich nicht mehr begegnet. Er zog seine Landhausresidenz der zentral gelegenen Stadtwohnung vor, die er vornehmlich über eine entsprechende Agentur an Mieter auf Zeit vergab. Ob aus Gründen der Flexibilität, um die Wohnung selber bei Bedarf beziehen zu können, oder aus Gründen höherer Einnahmen oder beides, das wusste sie nicht. Selber gewohnt hatten er und seine Frau dort schon seit Ewigkeiten nicht mehr. Sie kamen nur noch zur Wohnungsinspektion alle paar Monate, wenn mal wieder ein Übergangsmieter ausgezogen war. Das letzte Mal, als sie seiner Frau begegnete, war direkt vor dem Mehrparteienhaus. Auf offener, leerer Straße trug die Eigentümer-Nachbarin eine Maske. Fast hätte sie sie nicht erkannt. Eine richtige Unterhaltung kam nicht mehr zustande und das lag nicht nur an der Stoff- und Mimik-Barriere.
Als sie sich damals kennen lernten, war gerade ein anderer neuer Mieter auf derselben Etage eingezogen. Die Gelegenheit wollte das einstige Hippie-Pärchen nutzen, sich mit den neuen Single-Nachbarn, die ihre Kinder sein konnten, bekannt zu machen und lud sie zu Kaffee und Kuchen ein. Im Nachhinein betrachtet vermutete sie, geschah dies eher aus eigenem Selbstverständnis heraus: Offenheit und Interesse zeigen gegenüber der jüngeren Generation in der sonst so anonymen Großstadt. Neben dem Alter hatten sie auch sonst nur wenig gemein: Der junge Mann in einem prekären Arbeitsverhältnis und mit Unterhaltszahlungen belastet; sie in einem typisch unterbezahlten Frauenberuf in unfreiwilliger Teilzeit. Die Miete machte wahrscheinlich für beide den Großteil ihrer Einkommen aus. Für eine kleine Eigentumswohnung reichte es nicht. Das Pärchen schon in Rente, die Schäfchen im Trockenen. Ein Eigenheim auf dem Land, eines in der Stadt und weitere in Anbahnung, wie eine andere Mieterin mal verlauten ließ. Sein Geld hatte er als Mathematiker verdient, seine Frau betrieb mal eine kleine Baguetterie.
Die letzte Unterhaltung mit ihm, an die sie sich erinnern konnte, handelte von seiner Reise nach Indien. Sie, selber noch nie dort gewesen, fragte ihn damals, wie es denn sei, mit dieser Armut umzugehen, von der ihr schon mehrere berichtet hatten, u.a. ein indischer Wirtschaftsingenieur und ein deutscher Luxusküchenausstatter. Er lachte und antwortete, die Menschen seien dort ganz normal so wie hier. Reagierte so jemand, der auf den Widerspruch des eigenen Lebensstandards und seiner eigenen politischen Überzeugung prallte? Diese letzte Begegnung der beiden lag offenbar so lange zurück oder war einfach zu unwichtig gewesen, dass er sie nun fast nicht mehr erkannte und beinahe grußlos an ihr vorbeigezogen wäre – trotz offenen Visiers. Sie, etwas Small talk in Gange bringend, gab ihm zu verstehen, dass sie ja von diesen alle paar Monate wechselnden Mietern, mit denen sie quasi Tür an Tür wohne, so gut wie nichts mitbekäme und das sei ja irgendwie auch schade, wenn man gar nicht wisse, wem man da im Treppenhaus begegne oder wie die Leute überhaupt aussehen, deren Lebensgeräusche man manchmal höre. Dass sie, die nur noch von Ersparnissen lebte – Corona hatte sie die Stelle gekostet –, vielleicht selber nicht mehr allzu lange dort wohnen würde, weil ihr Vermieter sie auf Mieterhöhung verklagt hatte, erzählte sie nicht. Ehrlich gesagt, schätzte sie ihn ähnlich ein. Kaum hatte sie diesen Gedanken gedacht, berichtete er ihr, dass demnächst wohl ukrainische Flüchtlinge dort einziehen würden. Dann wisse sie wenigstens mal, wer dort wohne. Sie meinte, einen gewissen Stolz in seiner Stimme und eine auf Bestätigung wartende Körpersprache vernommen zu haben, ging darauf aber nicht ein. Auf diese politisch korrekten Glaubensbekenntnisse hatte sie keine Lust. Die Miete zahlt vermutlich die Stadt? Der kurze Plausch endete hier, schöne Grüße an die Frau.
Nun, dachte sie bei sich, sei allen Opfern von Geopolitik eine sichere Zuflucht gegönnt. Sei aber auch allen ortsansässigen Lohnsklaven, Systemverlierern und -verweigerern ein trautes und wenigstens bezahlbares Heim gegönnt. Und sei vor allem allen von ihnen gegönnt, nicht gegeneinander ausgespielt zu werden. Nicht von einer bösen Elite-Clique und nicht von gutmenschlichen Systemprofiteuren, damit diese sich an ihnen in selbstgerechter Manier bereichern konnten – finanziell an den einen, ideologisch an den anderen. Dieses asoziale System konnte nur vor die Hunde gehen, war es schon längst. Vor lauter selbstherrlichem Gesinnungsrausch waren ihr feiner Ex-Nachbar genauso wenig wie ihr Vermieter, dessen Gattin auch gerne ihr Ehrenamt an die große Glocke hängte, aber offenbar nicht mehr in der Lage, den Verwesungsgestank der Patriarchatsleiche zu riechen. Das verdorbene Fleisch wird bis in den letzten Kadaverwinkel weiter ausgehöhlt. Wenn sie sich daran mal nicht den Magen verderben. Das System ist elastisch, sagte neulich ein Bekannter. Das stimmt wohl. Doch jedes Gummi wird irgendwann spröde. Der Zeitpunkt naht, an dem solche Leute feststellen werden, was sie in ihrer Kindheit oft zu hören bekam: Mach‘ die Augen zu, dann siehst du, was deins ist.
Ein Kommentar zu „Geschichten vom Ende des Patriarchats, Teil 1“