Teil 2 – Die Radiostimme
Seit gut zwei Jahren hatte sie kein Radio mehr gehört. Es ging einfach nicht. Sie konnte diesen rund-um-die-Uhr-Zahlenterror und die damit verbundene Panikmache nicht ertragen. So blieb das Radio fortan beim Kochen, Essen und Spülen stumm. Dabei hatte sie immer gerne Radio gehört, waren doch immer ein paar Perlen dabei, die sie noch nicht kannte. Sie mochte den Überraschungseffekt, nicht zu wissen, was als nächstes kommt. Aber nun, wo eine der letzten Bastionen gefallen, das Weltuntergangsmarkenzeichen schlechthin fast verschwunden war, da traute sie sich wieder. Es war ein besonderer Moment, als sie das Radio einschaltete. Es ertönte eine Männerstimme. Das erste, was ihr dazu einfiel, war: Da spricht ein Weichei, ein Abnicker, ein Ja-und-Amen-Sager. Dieser anbiedernde Singsang, die leicht erhöhte, ängstliche Stimme, ja nichts politisch Falsches zu sagen, ja nicht anzuecken. Ein Untertan und Opportunist. Keiner, der seinem Chef oder seiner Chefin mal Widerworte geben würde. Zu wichtig die eigene Karriere. Keiner, der sie mal verteidigt hätte gegen all die Diskriminierungen und Pöbeleien, wenn sie mal wieder jemand beim freien Atmen erwischt hatte. Natürlich nicht. Er war ja Teil des Problems, nicht der Lösung. Erinnerungen kamen hoch: an den Gemüsehändler, der sie nicht bedienen wollte und sich hinter einer angeblichen Verordnung versteckte, obwohl er doch Überzeugungstäter war; an die offiziellen Ordnungshüter, die ihr zu zweit den Weg versperrten, sich anderthalb Köpfe größer als sie und doppelt so breit vor ihr aufbauten, völlig abgestumpft gegenüber der Wirkung ihrer Körpersprache; an den Mann, pardon den Helden, der die Situation passierte, ihr nicht half, sondern sie verächtlich in der dritten Person verhöhnte: „Hah, sie glaubt wohl, SIE muss keine Maske tragen!“; an den Familienvater, der sämtliche Leute im Zug in bester Blockwartmanier anhielt, die Masken richtig aufzusetzen. Dass er dies nicht in Sorge um seinen anwesenden Sohn tat, dessen Maske schon ziemlich abgenutzt wirkte, wurde deutlich, als er zuerst – nach ihm die Sintflut – aus dem Zug stieg den Sohn mit seinem Rad zurücklassend, das dieser alleine nicht aus dem Zug tragen konnte, bis schließlich die „Maskenverweigerin“ aushalf und kurzerhand den Gepäckträger anhob. Des Vaters verdutztes Gesicht konnte man selbst hinter der Vermummung erkennen. So eine Tat passte doch gar nicht zu diesen schlimmen „Querdenkern“!? Sie dachte an den Schaffner, der auf der Rückfahrt freundlich, aber bestimmt nach einem Attest fragte, woraufhin sie ebenfalls freundlich, aber bestimmt antwortete, sie würde dies nur unter Protest zeigen, habe er darauf schließlich gar kein Anrecht. Ein anderer Fahrgast hinter ihr fühlte sich daraufhin bemüßigt, den ach so bedrängten Zugbegleiter mit einem „Lassen Sie sich nicht ärgern“ aufmuntern zu müssen, so dass sie es mitbekam. Sie schwieg über diese Heldentat. Es sollte für lange Zeit die letzte Zugfahrt geblieben sein. Überhaupt hatte sie sich sehr zurückgezogen. Diese allgemeine Enthaltsamkeit hatte offensichtlich ihre Sinne geschärft. Was all diese Männer, so verschieden sie auch waren, mit dem Radiomoderator gemein hatten: Sie waren allesamt Softies, Antihelden, auf Linie gebürstete Kastrate. Das hatte der Feminismus nicht gewollt, jedenfalls ihrer nicht. Was war denn gegen edle Ritter zu sagen, die sich schützend vor bedrohte Frauen stellen? – Nichts! Sie ließ das Radio laufen, stellte fest, dass es noch mehr von seiner Sorte gab. Scheint ein Auswahlkriterium zu sein. Aber das störte sie nicht mehr. Sie fühlte, dass dieses System vorbei war. Es war nur noch eine Frage der Zeit.
Ein Kommentar zu „Geschichten vom Ende des Patriarchats, Teil 2“