Teil 3 – Der Haselstrauch
Im Innenhof ihrer neuen Musikunterrichtsstätte hatte sie einen Haselstrauch entdeckt. Er warf trotz oder gerade wegen seines jugendlichen Alters reichlich Früchte ab. Das freute sie um so mehr, hatte sie doch in der freien Wildbahn in den vergangenen zwei Jahren überhaupt keine tragenden Haselsträucher gesichtet. Totale Flaute. Die Woche zuvor hatte sie sich schon ein paar Nüsse mitgenommen: klein, aber sehr wohlschmeckend und saftig. Als Kruste gaben sie einem Auflauf das gewisse Etwas. Wie sie sich im Innenhof so umschaute, hatte sie nicht den Eindruck, als würde sich außer ihr noch jemand anderes für die milden Gaben des Haselstrauchs interessieren. Zuviele Nüsse lagen auf dem Boden: versunken im aufgeweichten Erdreich – es hatte die Tage oft geregnet –, zertreten auf den Steinplatten, verrottend in den Pfützen, gefallen in offen gelassene Spielzeugkisten, unbeachtet in den hintersten Ecken des Innenhofs. So begann sie erneut zu sammeln. Warum sollten diese kleinen Kostbarkeiten hier weiterhin vor sich hingammeln? Während sie sich in den Matsch bückte, regte sich im Augenwinkel etwas. Da bewegte sich jemand hinter der Fensterscheibe. Sie ließ sich nicht beirren und suchte den Boden weiter nach noch intakten Nüssen ab. Es dauerte nicht lange, da hörte sie ein leises Geräusch – wahrscheinlich die Tür. Sie ahnte, was kommen würde, drehte sich aber nicht um. Sollte man sie doch ansprechen, wenn man etwas von ihr wollte. Um ihrem Rücken eine kleine Pause zu gönnen, musste sie sich schließlich aufrichten. Und siehe da: Da lugte jemand durch den Türschlitz und beobachtete sie. Ein maskiertes Etwas: „Aber auch noch was für die Kinder lassen!“ ertönte eine verunsichert wirkende Frauenstimme. Anscheinend die Betreuerin vom Kinderhort. Die Sammlerin beantwortete diese Aufforderung mit einem demonstrativen Augenrollen. Welche Kinder meinte diese Frau? Den Jungen, der die Woche zuvor maskiert unter freiem Himmel über den Innenhof schlurfte, sich nicht die Bohne interessierend für das, was da unter seinen Schuhsohlen knackte? Die Kinder, die seit zwei Jahren von Leuten wie ihr mit sinnlosen Hygienegeboten terrorisiert werden: Atemluft und Spucke potentiell tödlich, Händekontakt sowieso, je mehr Sterilium desto besser, menschliche Nähe unerwünscht? Aber dreckige Nüsse vom Boden aufsammeln ist dann nicht igitt? Meinte sie die Kinder, die seit Jahrzehnten lernen, dass man Lebensmittel in Plastik verpackt im Supermarkt bekommt, wenn man dafür Geld bezahlt? Kinder, die ein Haselblatt nicht von einem Eichblatt unterscheiden können? Mit ihrem Augenrollen wollte sie der ach so besorgten Kinderhüterin all ihre Heuchelei und Verlogenheit spiegeln: Hier ging es doch gar nicht um um Nüsse betrogene Kinder und eine gerechte Ressourcenverteilung. Der Tatort, die Innenhofszenerie mit all den missachteten Schalenfrüchten, sprach eine eindeutige Sprache. Aus dieser Frau meldete sich das Patriarchat: Ging es doch mal wieder nur um Hoheitsansprüche unter Instrumentalisierung von Lebewesen, in diesem Fall Kinder und ein Haselstrauch. Beleidigt zog die Nüssesammlerin von dannen. Mit ihrer Lageeinschätzung sollte sie leider Recht behalten: In der darauffolgenden Woche begrüßte sie im Innenhof eine klaffende Lücke im Gestrüpp. Vom Haselstrauch, dessen Früchte letzte Woche noch so heldinnenhaft gegen eine feindliche Übernahme verteidigt wurden, war nicht viel mehr übrig als ein Amputationsstumpf. Die Wunde glänzte noch feucht-frisch. Von der Gerechtigkeitswächterin keine Spur. Wenn das Aschenputtel wüsste.